„Die jungen Fachkräfte, die heute in die Kodierung einsteigen, werden einen völlig anderen Beruf ausüben als ich.“

Alfred Bollinger hat fast 25 Jahre damit verbracht, die medizinische Kodierung in der Schweiz mit aufzubauen und weiterzuentwickeln. Als langjähriger Leiter der Kodierabteilung am Universitätsspital Zürich hat er sich stets für einen anspruchsvollen, aber zutiefst menschlichen Ansatz in der Kodierung eingesetzt. Heute ist er Experte bei Swisscoding und teilt seine Sicht auf die Herausforderungen des Fachgebiets, die Grenzen des aktuellen Systems und das Potenzial der künstlichen Intelligenz.

Welche Rolle spielt die medizinische Kodierung heute im Betrieb eines Spitals?
Die medizinische Kodierung ist heute ein strategischer Pfeiler im Spitalbetrieb. Sie bildet die Schnittstelle zwischen den Leistungserbringenden und der Finanzabteilung und sorgt dafür, dass erbrachte Leistungen korrekt in abrechnungsrelevante Daten übersetzt werden. Damit die Kodierung präzise und regelkonform ist, braucht es eine vollständige, qualitativ hochwertige medizinische Dokumentation – und das in kurzer Zeit. Es handelt sich um eine anspruchsvolle Tätigkeit, die technisches Fachwissen und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Kliniken vereint.

Wie haben Sie die Entwicklung der Kodierung seit ihren Anfängen erlebt – technisch wie organisatorisch?
Als ich mit der Kodierung begann, arbeiteten wir mit rund 3’600 Codes für Behandlungen (CHOP) und einem Kodierdatensatz mit maximal 10 Diagnosen- und Prozedurenfeldern, die für die komplexen Leistungen von Universitätsspitälern kaum ausreichten. Heute verfügen wir über mehr als 23’000 Prozedurencodes, einen Datensatz mit unbegrenzten Feldern für Diagnosen- und Prozedurencodes, und die medizinische Dokumentation ist deutlich umfangreicher geworden. Diese Entwicklung verlangt tiefes medizinisches Wissen – sowohl von den Kodierfachpersonen als auch vom medizinischen Personal. Das System verändert sich jedes Jahr mit den DRG-Anpassungen. Besonders beeindruckt bin ich davon, wie junge Berufsleute heute eine riesige Menge an Wissen verarbeiten müssen, das es zu meiner Zeit schlicht noch nicht gab.

Was sind heute die zentralen Anforderungen an Spitäler im Bereich der medizinischen Kodierung?
Die Abrechnung ist heute direkt mit der Kodierung verknüpft – das setzt die Spitäler unter Leistungsdruck. Sie müssen medizinische Innovationen aufnehmen, flexibel auf Systemänderungen reagieren und sich jährlich auf neue DRG-Regelungen einstellen, die eine vorher rentable Leistung plötzlich in einen Verlust verwandeln können. Hochwertige Kodierung erfordert eine präzise, vollständige und zeitgerechte medizinische Dokumentation – und dafür braucht es eine klar strukturierte Organisation. Doch angesichts chronischer Defizite fehlt vielen Spitälern das Budget, um in die nötigen Ressourcen zu investieren. Personalabbau in der Kodierung mag kurzfristig sparen, führt aber mittelfristig zu erheblichen Einnahmeverlusten.

„Diese Entwicklung verlangt tiefes medizinisches Wissen – sowohl von den Kodierfachpersonen als auch vom medizinischen Personal. Das System verändert sich jedes Jahr mit den DRG-Anpassungen. Besonders beeindruckt bin ich davon, wie junge Berufsleute heute eine riesige Menge an Wissen verarbeiten müssen, das es zu meiner Zeit schlicht noch nicht gab.

Alfred Bollinger, medizinischer Kodierspezialist bei Swisscoding

Die Kodierung verlangt spezifische Kompetenzen, aber wie steht es heute um die Ausbildung? Gibt es eine strukturierte Qualifikation für medizinische Kodierer:innen?
In der Schweiz gibt es bisher keinen vollständig strukturierten Ausbildungsgang für medizinische Kodierer:innen. Es existiert zwar ein eidgenössischer Fachausweis mit offizieller Prüfung, doch der vorgelagerte praktische Bildungsweg fehlt weitgehend. Die angebotenen Kurse – etwa von H+ oder Swisscoding – sind oft theorielastig und können aufgrund der Kursdauer nur eine beschränkte Auswahl und Anzahl an praktischen Fallbeispielen mit  Kodierung behandeln.   Nur grosse Spitäler verfügen über die nötigen Mittel, um Kodierfachpersonen intern über mehrere Jahre fundiert auszubilden. Kleine Häuser haben weder das Personal noch das Budget, um jemanden auszubilden. Deshalb können sie nur bereits qualifizierte Fachkräfte einstellen. Auch Versicherer und private Firmen im Bereich der Kodierung oder Kodierrevision setzen auf bereits ausgebildete Kodierfachpersonen mit langjähriger Kodiererfahrung, was wiederum den Druck auf die ausbildenden Spitäler erhöht.

Würde sich mit mehr Personal die Last der Kodierung in den Spitälern verringern?
Ja, aber es geht nicht nur um Personalressourcen. Es braucht auch Investitionen in moderne digitale Systeme. Seit Jahren wird über elektronische Patientendossiers, strukturierte Dokumentation und Datenaustausch zwischen Institutionen gesprochen – aber die Umsetzung bleibt aus. Ein grosser Teil der medizinischen Dokumentation ist heute nicht maschinenlesbar: Sie liegt in Word-Dokumenten vor, ist nicht standardisiert und daher kaum nutzbar für automatisierte Prozesse. Wer die Qualität der Kodierung verbessern will, muss die gesamte Spitalinformatik neu denken – nicht nur Personal aufstocken, sondern in intelligente Lösungen investieren, die die Mitarbeitenden entlasten und die Qualität steigern.

In diesem Sinne, ist künstliche Intelligenz aus Ihrer Sicht der richtige Weg?
Ja, künstliche Intelligenz hat grosses Potenzial. Sie lernt anhand realer Fälle aus umfangreichen Datenbanken und kann Kodierungsvorschläge machen, die zur vorhandenen Dokumentation passen. In Bereichen wie Orthopädie oder Geburtshilfe kann sie bereits einfache Fälle automatisch kodieren. Das schafft Freiräume für die Kodierfachpersonen, um sich auf komplexe Fälle zu konzentrieren, die medizinischen Teams bei der Dokumentation zu unterstützen – und selbst an der Weiterentwicklung der Systeme mitzuwirken.

Könnte KI den Beruf der Kodierer:innen langfristig verändern?
Ja, ganz klar. Die jungen Fachkräfte, die heute in die Kodierung einsteigen, werden einen völlig anderen Beruf ausüben als ich. Das System wandelt sich grundlegend – und wir müssen sie darauf vorbereiten. Auch nach meiner Pensionierung engagiere ich mich weiter, weil mir dieser Wandel am Herzen liegt. Ich arbeite mit den Entwicklern von Swisscoding zusammen, um Kodierregeln ins System zu integrieren, Fälle zu erklären und die Grundlage für ein lernfähiges System zu schaffen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der medizinischen Kodierung und des SwissDRG-Systems?
Ich wünsche mir, dass die medizinische Kodierung als Beruf mit strategischer Bedeutung anerkannt wird und die Spitäler, die dafür notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen erhalten. Ich hoffe, dass das Vertrauen zwischen den Akteuren zurückkehrt – zwischen Spitälern, Kodierfachpersonen, Ärzt:innen und Versicherern. In den letzten Jahren hat sich eine Haltung des Misstrauens entwickelt, fast schon eine Konfrontation. Dabei verfolgen doch alle das gleiche Ziel: hochwertige Versorgung und korrekte Leistungsabrechnung. Wenn KI durch ihre Neutralität und Transparenz dazu beitragen kann, dieses Vertrauen wiederherzustellen, ist das sehr zu begrüssen.

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